Neustart Kultur für Alle!

Ein offener Brief des Netzwerk freie Literaturszene Berlin (NFLB e.V.)

Reboot Culture For Everyone!- English Version

(Brief als PDF-Download)

An
Staatsministerin für Kultur und Medien
Frau Prof. Monika Grütters
Bundeskanzleramt

sowie 

Deutscher Literaturfonds e.V.
Herrn Dr. Bernd Busch
Geschäftsführer

Berlin, 17.07.2020

Sehr geehrte Frau Prof. Grütters, sehr geehrter Herr Dr. Busch,

wir begrüßen grundsätzlich, dass der Bund im Rahmen des Corona-Hilfsprogramms  NEUSTART KULTUR die Bundeskulturfonds mit 50 Millionen Euro finanziell stärkt, um auch auf diesem Wege Künstler*innen und künstlerischen Infrastrukturen in Zeiten der Corona-Pandemie unter die Arme zu greifen. Angesichts von dramatischen Notlagen und Einnahmeausfällen bei künstlerischen Akteur*innen einerseits und der angedachten bundesweiten Wirkung ist die finanzielle Ausstattung dieser Förderung mit 5 Millionen Euro für die Sparte Literatur allerdings zu gering und die konzeptionelle Ausgestaltung der aufgesetzten Programme zu kurz gedacht.

Gerade die Literatur mit ihrer vielfältigen, multilingualen Akteur*innenstruktur aus Autor*innen, Übersetzer*innen, Verleger*innen, Veranstalter*innen, Herausgeber*innen von Zeitschriften und Magazinen u.v.m. ist von der Corona-Pandemie schwer getroffen. Der Buchhandel erlitt Umsatzeinbrüche von bis zu zwei Drittel, Einnahmequellen durch Lesungen, Festivals u.ä. sind weggebrochen, freie Veranstalter*innen können aufgrund von Hygiene- und Abstandsauflagen nicht kostendeckend agieren. Je nach Raumzuschnitt reduzieren sich die Zuschauerkapazitäten hier auf ein Drittel bis ein Viertel. Die meisten Akteur*innen verfügen über keine Rücklagen, lebten schon vor der Corona-Krise in prekären Verhältnissen. Und die Pandemie ist noch keineswegs ausgestanden. Der Krisen-Modus wird die Sparte Literatur noch lange Zeit belasten.

Zweifelsohne ist es eine gute Sache, dass mit dem geförderten Teilprogramm „Tausende literarische (Wieder)Begegnungen mit Autorinnen und Autoren“ tausende Honoraranlässe für eben diese Autor*innen geschaffen werden. Dass allerdings weder Kosten für Moderation, Organisation und Betreuung noch Pandemie-bedingte Mehraufwände resp. Mindereinnahmen abgerechnet werden können, erschwert den Zugang insbesondere für freie Veranstalter*innen, die solche Positionen selbst tragen müssen und in das Verlustrisiko gehen. Damit werden institutionelle Einrichtungen klar bevorzugt, die zwar ebenfalls von den Auswirkungen der Corona-Pandemie betroffen, aber kaum in ihrer Existenz bedroht sind. Hier erwarten wir Nachbesserungen, damit das Teilprogramm für freie Veranstalter*innen, freie Lesereihen, Lesebühnen und Literaturorte, die nicht oder nur beschränkt öffentlich finanziert werden, eine positive Wirkung entfaltet. So erweckt es den Eindruck, als wären Veranstalter*innen der freien Szene beim NEUSTART KULTUR nicht erwünscht, obwohl gerade bei ihnen der größte Förderbedarf und existentielle Not besteht.

Wir sehen es als erforderlich an, dass über ein weiteres Teilprogramm freie Veranstalter*innen Zuschüsse beantragen können, über die sie eigenständig verfügen, damit sie halbwegs über die Runden kommen und Einnahmeverluste kompensieren können. Wir fordern, dass auch nicht-deutschsprachige Veranstalter*innen, Lesereihen und -bühnen ermutigt werden, sich auf die Programme zu bewerben.

Statt der Auszahlung kleiner Honorare, die in Summe gerade ein Prozent der gesamten Fördersumme ausmachen, an eine Vorauswahl ehemaliger Stipendiat*innen des Deutschen Literaturfonds für die Erstellung von Lesungsvideos (was den Eindruck erweckt, nur die eigene  Klientel zu bedienen), fordern wir eine deutliche Mittelaufstockung für flexible, unbürokratische Überbrückungsstipendien an Autor*innen, aber auch an andere literarische Akteur*innen. Gerade das #takecare-Programm des Fonds Darstellender Künste ist aus unserer Sicht wegweisend, wie Förderrichtlinien offen, inklusiv und einladend gestaltet werden können.

Die Corona-Pandemie betrifft uns alle gleichermaßen. Es sollte selbstverständlich sein, dass der Zugang zu Förder- und Hilfsmaßnahmen des Bundes durch strukturelle Ausschlüsse in Vergaberichtlinien nicht eingeschränkt wird. Deutsche Literatur ist nicht mehr nur deutschsprachig, sondern multilingual. Der Ausschluss nicht-deutschsprachiger Autor*innen, wie sie der Deutsche Literaturfonds immer noch praktiziert, ist nicht zeitgemäß. In anderen Bundeskulturfonds ist diese Praxis überwunden − maßgeblich ist der Wohnsitz und Arbeitsschwerpunkt in Deutschland. In einer Pressemitteilung des Bundes (Nr. 48, 6. Februar 2020) heißt es: „Kultureinrichtungen stärken Weltoffenheit und Zusammenhalt.“ Gerade ein Bundeskulturfonds sollte sich daran messen und ein Höchstmaß an Vielfalt und Offenheit leben. Genauso verwundert, dass immer noch 63 Prozent der über 600 Stipendiat*innen männlich sind und dass einzelne Genres wie die Lyrik mit deutlich weniger als 10 Prozent Anteil an den Stipendiat*innen marginalisiert werden.

Wir fordern den Deutschen Literaturfonds auf, seine Satzung entsprechend anzupassen, sich endlich auch für nicht-deutschsprachige Autor*innen zu öffnen und bei der Stipendienvergabe Prozesse zu implementieren, die mehr Diversität, höhere Gender- und Genregerechtigkeit sicherstellen. Der Deutsche Übersetzerfonds und der Fonds der Darstellenden Künste haben es vorgemacht.

Wir appellieren mit Nachdruck an den Bund, es nicht bei dieser flankierenden Hilfsmaßnahme zu belassen. Der NEUSTART KULTUR bedarf weiterer gezielter und unbürokratischer Unterstützungsmaßnahmen für die Sparte Literatur. Es geht um die Vielfalt der freien Literaturszenen, die von vielen kleineren Initiativen und Akteur*innen jenseits der großen Feuilleton-Öffentlichkeit getragen werden und vor Ort, in großen und kleinen Städten wie im ländlichen Raum literarische Teilhabe und die Sichtbarkeit diverser literarischer Stimmen ermöglichen.

Wir fordern neben breit angelegten bundesweiten Stipendienprogrammen für Akteur*innen der Literaturszenen vor allem Programme, die prekäre und zumeist ehrenamtliche Strukturen der freien Literaturszenen in Deutschland krisensicher machen und über Förderinstrumente auskömmlich finanzieren. Die Corona-Pandemie hat die strukturellen Probleme nur verschärft und sichtbarer gemacht. Die eigentlichen Defizite in der Förderlandschaft und die Marginalisierung der freien Literaturszenen wurden lange genug verschleppt und hingenommen.

Wir fordern den Bund auf, noch stärker in nachhaltige Förderinstrumente zu investieren, die lokal und regional verankerte Akteur*innen in die Lage versetzen, unfreiwillige Selbstausbeutungsstrukturen zu überwinden und mit Planungssicherheit das zu tun, was sie am besten können: Menschen über die Literatur zusammenzubringen, Verständigung und gesellschaftlichen Zusammenhalt herbeizuführen.

Das Rettungsprogramm NEUSTART KULTUR hat mit Hilfen in Höhe von einer Milliarde Euro bereits einiges auf den Weg gebracht. So sinnvoll Millioneninvestitionen in kulturelle Digitalisierungsprojekte, Online-Formate und Streamings kurzfristig und zur Überbrückung sein mögen, lebendige Literaturszenen können sie nicht ersetzen. Literatur lebt vom Enthusiasmus eines unmittelbaren Austauschs, von sozialer Interaktion, vom Live-Erlebnis.

Wir brauchen einen NEUSTART KULTUR für alle. Nicht als Flickenteppich, sondern als Masterplan. Nur gemeinsam überlebt die Literatur: solidarisch und kooperativ, in all ihren Muttersprachen, in all ihrer Vielfalt.

Unsere Forderungen zusammengefasst:

1. Hilfsprogramme des Deutschen Literaturfonds
  • Umgestaltung der Autor*innen-Förderung auf Stipendienbasis in Höhe von mindestens 5.000 €
  • Deutliche Mittelerweiterung für eine Autor*innen-Förderung auf Stipendienbasis
  • Keine diskriminierenden Ausschlusskriterien< wie z.B. vorherige Förderung durch den DLF bei der Stipendienvergabe
  • Akteur*innen-offene Vergabe von Stipendien 
2. Satzung / Förderrichtlinien des Deutschen Literaturfonds
  • Beendigung des Ausschlusses nicht-deutschsprachiger Autor*innen mit Wohnsitz und Arbeitsschwerpunkt in Deutschland bei der Vergabe von Stipendien
  • Anpassung der Juryprozesse zur Sicherstellung von mehr Diversität, höherer Gender- und Genregerechtigkeit bei der Vergabe von Stipendien
3. Weitere Hilfsprogramme des Bundes
  • Flexible, unbürokratische und bedarfsgerechte Stipendienprogramme für Akteur*innen der Sparte Literatur
  • Nachhaltige Förderprogramme zur Sicherung der literarischen Infrastruktur der freien Literaturszenen in ihrer Breite und Vielfalt  
  • Zuschüsse für freie Veranstalter*innen, Literaturorte und Lesereihen zur Aufrechterhaltung ihrer Programme, zur Bestreitung von Betriebsausgaben und Personalkosten
  • Keine strukturellen Ausschlüsse bei der Vergabe von bundesweiten Hilfs- und Förderprogrammen
  • Mehr Kooperationsprojekte zwischen freien Literaturszenen und Literaturinstitutionen

Bei Interesse zu unterzeichnen bitte per Mail an vorstand@nflb.de